Dienstag, 30. Oktober 2012

Eine Debatte im Spiegelfechter-Blog

Im Spiegelfechter-Blog wurde kürzlich ein Artikel veröffentlicht, in dem der ehemalige deutsche Bundeswirtschaftsminister Michael Glos für seine Nähe zum Think-Tank Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) kritisiert wurde. Ein kurzer Leserkommentar meinerseits stieß eine rege Kritik von allen Seiten vom Stapel. Statt im Blog mit kurzen Einwänden auf kurze Einwände anderer zu reagieren, habe ich nachstehende Artikel dort veröffentlicht. 


Antworten/Reflektionen auf Leserkommentare
Nachdem sich der Sturm über meine paar Zeilen gelegt zu haben scheint, erlaube ich mir ein paar Antworten/Reflektionen.

Vorab: nein, ich war mit dem INSM als Institution nicht vertraut, sondern ich bezog mich auf die Überschrift „Neue Initiative für die Soziale Marktwirtschaft“. Jede solche Initiative halte ich grundsätzlich einmal für gut. Wenn die INSM-Initiative die falsche ist, dann muss jemand mit einer besseren Alternative kommen, statt nur das Falsche zu kritisieren. Sollte allerdings diese neue Alternative das Wort ‚Marktwirtschaft‘ nicht mehr beinhalten, dann sollte man sich die Initiative sparen.

Ich habe mir das Plus/Minus Video angeschaut und auch die Artikel gelesen (danke!). Von wegen journalistischer Objektivität kann ich da nicht viel erkennen. Vor allem das Video ist vollkommen einseitig und aufhetzerisch geprägt. Es ist durchaus legitim, Spiegelfechter als seine „geistige Heimat“ zu betrachten. Nicht legitim ist es, einem anderen nicht eine andere „geistige Heimat“ zu gestatten. Es geht um den Wettbewerb der Argumente und nicht um jenen der Vorurteile!

Lennard hat sich die Mühe gemacht, zu recherchieren, wofür ich wirklich stehe, anstatt in ein paar Zeilen das hineinzulesen, worauf die Empfangsantennen eingestellt sind. Danke! Ja, ich bin Österreicher und im Ruhestand (den ich zur Hälfte in der Heimat meiner Frau, Griechenland, verbringe). Mein Hauptblog ist über Griechenland. Daneben habe ich 2 kleine Blogs, wo ich hin und wieder über Sonstiges poste. Man hat offenbar den Artikel gefunden, den ich einmal über den Neoliberalismus geschrieben habe. Dort habe ich in der Tat geschrieben, dass es mir heutzutage oft leichter fällt, Leuten wie Gysi und Wagenknecht in ihrer Ursachenanalyse (nicht ihren Lösungsvorschlägen!) zu folgen, als den Vertretern des politischen und/oder wirtschaftlichen Establishments. Lennard hätte allerdings jenen Satz zitieren können, der gleich nach meinen Worten über Gysi/Wagenknecht kam, nämlich:

„Es steht doch völlig außer Frage, dass Banken primär der Wirtschaft und dass die Wirtschaft primär der Gesellschaft dienen sollte. Es wird aber keine sehr gut funktionierende Gesellschaft geben, hinter der nicht auch eine gut funktionierende Wirtschaft steht und es wird ohne gut funktionierende Banken auch keine gut funktionierende Wirtschaft geben“.

Meine Berufserfahrungen in Deutschland gewann ich in den Jahren 1974-80 (als Account Manager einer amerikanischen Bank) und 2003-2010 (als Geschäftsleiter der größten in Deutschland vertretenen österreichischen Bank). Beide Male mit Marktverantwortung für Bayern/Baden-Württemberg.

Ich sehe die deutsche Wirtschaft anders als die Spiegelfechter-Anhänger. Für mich ist die deutsche Wirtschaft eine Wirtschaft des Mittelstandes und nicht der Großkonzerne bzw. kapitalmarktorientierten Publikumsgesellschaften (ich glaube, 80-90% der Arbeitnehmer sind im Mittelstand beschäftigt). Ich habe in den letzten Jahren mehrere hundert mittelständische Unternehmen und Unternehmer in Bayern/Baden-Württemberg kennenlernen dürfen. Dort herrscht keine Kapitalmarktkultur! Dort herrscht keine Besessenheit mit ROE! Dort herrscht keine Abcasher-Mentalität! Stattdessen herrschen dort Werte: Familieneigentümer, deren Hauptinteresse der Entwicklung des Unternehmens gilt und nicht der zu erwartenden Dividende. Wo die Loyalität zweigleisig ist (vom Unternehmer zu den Mitarbeitern und vice versa). Wo man leidet, wenn Arbeitsplätze nicht gehalten werden können und wo man sich freut, wenn man Arbeitsplätze schaffen kann. DAS ist für mich die deutsche Wirtschaft! Lassen Sie mich beispielhaft nur 3 der besten Namen nennen: Trumpf (sehr groß), Kathrein (groß) und Schreiner (klein). Dieser Mittelstand würde sich von der Argumentation der Spiegelfechter-Kommentatoren über die ‚Wirtschaft‘ – m. E. zu Recht – beleidigt fühlen. Wahrscheinlich würden sie sich dem INSM hingezogen fühlen mit der Absicht, Aufklärung zu schaffen, was die ‚Wirtschaft‘ wirklich ist. Ich erinnere an mein Churchill-Zitat im Kommentar.

Die unvertretbaren Exzesse des Kapitalmarktes (vor allem des abstrakten Finanzmarktes) halte ich für ebenso verurteilungswürdig wie Gysi/Wagenknecht. Allerdings liegt das nicht am System ‚Wirtschaft‘ oder ‚Marktwirtschaft‘. Es liegt – zumindest in meiner Wahrnehmung – primär am Versagen der Politik (und am Versagen des „Staates als oberste Instanz jenseits aller Interessensvertretungen“ – dies ist übrigens eine neoliberale Definition der Rolle des Staates). Ich bin kein „Anbeter“ von Systemen und/oder wirtschaftlichen/gesellschaftlichen Modellen, weil der Erfolg jedes Systems abhängt von den handelnden Personen und deren Werteskala.

Ausgehend von den USA (und wunderbar übernommen von Europa) hat die Politik einem wild-gewordenen, abstrakten Finanzsektor nicht nur die Zügel überlassen, sondern ihn auch noch gefördert. Und seit 2008 hat sie sich in unglaublich amateurhafter Weise von den Märkten vorführen lassen. Man stelle sich vor: Pleitebanker gehen erhobenen Hauptes zur Politik und verlangen, dass man sie retten müsse. Und die Politik erfüllt den Auftrag; einfach so! Die korrekte Antwort der Politik hätte sein müssen: „Ja, wir werden retten. Wir werden aber nicht Eure Eigentümer, Eure spekulativen Kunden und/oder Eure Manager-Jobs retten, sondern Euer Grundgeschäft. Unsere Auffanggesellschaft steht schon parat: Ihr könnt am Vormittag Konkurs anmelden und am Nachmittag läuft das Geschäft ganz normal weiter. Kein Sparer oder ‚realer Kunde‘ wird darunter leiden. Die Eigentümer werden allerdings bluten (wie es die Marktwirtschaft verlangt) und viele Eurer spekulativen Kunden, die ja nicht umsonst als ‚professionelle Marktteilnehmer‘ eingestuft werden, werden ebenfalls einen Beitrag zur Sanierung leisten müssen. Und wir werden prüfen, ob es irgendwelche Haftungsansprüche gegen die Managements gibt“. So geschehen mit der Continental Bank of Chicago im Jahr 1984, damals eine ‚too-big-to-fail‘ Bank.

Wie gewährleistet man, dass in der Wirtschaft Führungskräfte mit der „richtigen“ und nicht der „falschen“ Werteskala das Sagen bekommen? Sicherlich nicht per Gesetz, weil das gar nicht geht. Aber beachten Sie bitte: niemand ist unabhängig und/oder unverwundbar, auch nicht Goldman Sachs (und schon gar nicht die Deutsche Bank mit ihrer Leverage von 40:1!). Goldman würde es heute nicht mehr geben, wäre die amerikanische Politik/Regierung damals nicht eingeschritten. Und Goldman’s Dank dafür? Ein präpotentes und teilweise freches Auftreten vor einem Untersuchungsausschuss im US Congress ein paar Monate später. Besser könnte man nicht demonstrieren, dass man die Politik/Regierung für ‚nützliche Idioten‘ hält!

Am Ende des Tages hat die Politik immer den stärkeren Hebel. Die Politik muss allerdings den Mut und das Rückgrat haben, diesen Hebel verantwortungsvoll und verantwortungsgerecht einzusetzen. Wenn sie das nicht tut, dann kommt es zu dem, was wir heute auf den abstrakten Finanzmärkten erleben. Ein Fußballschiedsrichter wird dafür bezahlt, dass er das Spiel nicht außer Kontrolle geraten lässt und dass alles möglichst fair und regelkonform bleibt. Die Politik ebenso.

Ich glaube nicht, dass in einer Deutsche Bank, die einen Herrn Herrhausen als AR-Vorsitzenden gehabt hätte, ein Vorstandsvorsitzender, dem zum Thema Strategie nichts Anderes einfällt als eine 25%-ige EK-Rendite, sehr lange Vorstandsvorsitzender geblieben wäre (viel mehr: er wäre gar nicht Vorstandsvorsitzender geworden). Bei einer IHK-Veranstaltung in Nürnberg Anfang der 2000er Jahre verkündete Herr Breuer (damals Sprecher der Deutsche Bank) den anwesenden Mittelständlern, dass „die Aufgabe der Deutsche Bank nicht sein kann, den deutschen Mittelstand zu finanzieren“. Es ist mir nicht bekannt, dass er dafür von irgendeinem (Wirtschafts-)Politiker zur Rechenschaft gezogen wurde. Dass vielleicht irgendeine öffentliche Institution verkündet hätte, dass sie dann eben ihr Geschäft von der Deutsche Bank abziehen müsse. Dass vielleicht die Republik bei der nächsten Bond-Emission die Deutsche Bank nicht eingeladen hätte. Etc.

Eine kleine Anekdote: im Jahr 1988 hatte ich den CFO von Siemens-USA, mit dem ich aus meiner ersten Münchner-Zeit noch befreundet war, zum Abendessen zu Gast in meinem damaligen Zuhause in Chicago. Wir redeten über das blühende LBO-Geschäft in den USA und wie dieses funktionierte (der Käufer verwendet die Assets des Kaufobjektes, um den Kaufpreis zu finanzieren). Ich erwähnte, dass Siemens wohl ein ideales Kaufobjekt wäre, weil alleine die Cash-Reserven des Konzerns ausreichen könnten, den Kaufpreis zu finanzieren. Spaßhalber prophezeite ich, dass bis spätestens 1999 Siemens Ziel eines Buy-out’s werden könnte. Er antwortete empört: „So etwas wird es in der deutschen Wirtschaftskultur niemals geben!“

Na ja, da hat sich an der deutschen Wirtschaftskultur seither eine Kleinigkeit geändert. (Wie sich die amerikanische Wirtschaftskultur geändert hat, habe ich einmal in diesem Artikel beschrieben). Aber bitte: doch nicht wegen des Systems! Das System ist das gleiche geblieben. Es ist die Werteskala der handelnden Personen, die sich geändert hat. Dinge, für die man sich vor 30/40 Jahren noch hätte schämen müssen, gehören heute zum Alltag. Es geht also immer um die Frage: wie entsteht eine Werteskala und wie kann man gegensteuern, wenn sie sich in die falsche Richtung bewegt. Die Werteskala wird in der Regel von oben nach unten geprägt („wie der Herr, so‘s G’scherr“). So ist das auch bei den oben erwähnten Mittelständlern: die (Familien-)Eigentümer prägen die Kultur. Ich habe keinen Lösungsvorschlag, wie man die bestehende Werteskala im Kapitalmarkt und im abstrakten Finanzsektor ändern könnte. Ich bin jedoch überzeugt, dass es ein großer Fehler ist, ein erfolgreiches System in Misskredit zu ziehen, nur weil die Werteskala der handelnden Personen aus dem Ruder geraten ist (bzw. weil man sie aus dem Ruder geraten hat lassen!).

Zuletzt zu den „Maden im Speck“. Hier war ich in der Wortwahl etwas unbedacht. Ich weiß natürlich, dass der untere Teil der deutschen Gesellschaft vom Aufschwung der letzten Jahre nicht viel mitbekommen hat (allerdings: es gibt heute ein paar Millionen mehr Beschäftigte; niedriges Einkommen ist sicherlich ein großes Problem; keine Arbeit zu haben, ein viel größeres; das weiß jeder, der einmal arbeitslos war). In einer Gesellschaft, die insgesamt so wohlhabend ist wie die deutsche, dürfte es keine Armut geben. Man muss aber auch die Fremdsicht im Auge behalten und da ist es nun einmal so, dass der Rest der Welt nur staunen kann, dass in Deutschland so viel gejammert wird (nicht nur in Griechenland, wo ich diese Zeilen schreibe).

Es klingt schon furchtbar, wenn man Überschriften wie z. B. „Abschaffung des Kündigungsschutzes“, „Anpassung/Senkung der Löhne“, „Flexibilisierung/Ausweitung der Arbeitszeiten“, etc. in die Welt posaunt. Da fließt einem doch der eiskalte, menschenverachtende Neoliberalismus den Rücken runter. Es gibt aber auch Volkswirtschaften, die nach einer Krise den Weg zum Erfolg gefunden haben und die dann stolz berichten: „Wir haben den Kündigungsschutz abgeschafft, den Arbeitsmarkt flexibilisiert, Löhne an Marktniveau angepasst, Arbeitszeiten ausgeweitet, etc.“. Vorausgesetzt, dass parallel dazu ein ausreichendes Sicherheitsnetz für jene existiert, die (vorübergehend) nicht am wirtschaftlichen Erfolg teilnehmen können, sehe ich daran nichts Verwerfliches.

Viele Länder dieser Erde wundern sich, dass sich Deutschland noch das leisten kann, was sie ihrerseits als puren sozialen Luxus empfinden. Meines Wissens haben Deutsche eine der niedrigsten Jahresarbeitszeiten pro Kopf und eine der längsten Jahresurlaubszeiten weltweit. Formelle Aufhebung des Kündigungsschutzes hin und her – wir konnten in der Bank niemanden kündigen. Wenn man sich von jemandem trennen wollte und diesem Jemanden nichts Anderes vorzuwerfen war als komplette Erfolgslosigkeit, dann musste man einen satten Aufhebungsvertrag einvernehmlich verhandeln. Unser Stammhaus in Österreich, wo auch nicht gerade a-soziale Verhältnisse herrschen, war da oft sehr verwundert.

Ich komme zurück auf das Churchill-Zitat, das ich voll und ganz unterschreibe. Die Wirtschaft ist kein aggressiver Tiger, den man erlegen sollte und sie ist keine Kuh, die man andauern melken kann. Wir ALLE sind die Wirtschaft und nicht nur jene, die von Spiegelfechter-Anhängern als „böse“ eingestuft werden. Der Bäcker lebt davon, dass beispielsweise ein Schlosser bei ihm Brot einkauft. Wenn man den Schlosser in seiner wirtschaftlichen Freiheit einschränkt und er weniger verdient, dann wird er auch weniger beim Bäcker ausgeben. Wer immer die ‚Wirtschaft‘ verteufelt, verteufelt gleichzeitig den eigenen Lebensstandard.

M. E. ist eines der größten gesellschaftlichen Probleme von Ländern wie Deutschland oder Österreich, dass man den Bürgern ‚Sicherheit‘ als das größte Gut eingeimpft hat. Sicherheit und Unternehmergeist können gleichzeitig nicht existieren und wenn der Unternehmergeist sinkt, dann leidet die gesamte Gesellschaft. Die Ich-AGs hatte ich seinerzeit als eine clevere Idee empfunden, sie funktionieren aber nur dann gut, wenn in der Gesellschaft auch auf unterster Ebene Unternehmergeist und Mut zum Risiko herrschen. Wenn man den Menschen einredet, dass sie nur dann die eiskalte und menschenverachtende Wirtschaft überleben können, wenn sie vollkommen abgesichert sind, dann leistet man ihnen einen Bärendienst.

Ich war 38, als ich von meinem Arbeitgeber (Continental Bank of Chicago) von Argentinien nach Chicago in eine sehr hohe Führungsposition zurückversetzt wurde. Dort hatte ich vorher noch nie gearbeitet und kannte außerhalb der Bank keinen Menschen. Nach ca. 6 Monaten (Haus mit Kredit gekauft; Kinder eingeschult) verlor ich aufgrund einer krisenbedingten Umstrukturierung meinen Job. In Österreich hätte man mich möglicherweise als „nicht mehr vermittelbar und/oder Sozialfall“ eingestuft. Das positive und risikofreudige amerikanische Umfeld ermutigte mich, in eine Franchise einzusteigen und eine kleine Firma aufzubauen. Ich entdeckte Fähigkeiten/Talente an mir, die ich vorher nicht gekannt hatte. Das Unternehmen wurde ein großer Erfolg und ich verkaufte es sehr lukrativ 2 Jahre später, um nach Österreich zurückzukehren (das war übrigens dann ein Kulturschock!). Ich bin bis heute noch dankbar dafür, dass ich meinen ersten Jobverlust in einem Umfeld erleben konnte, das einen ermutigte, Eigeninitiative zu zeigen, Eigenverantwortung zu übernehmen und das mir ermöglichte, eigene Fähigkeiten/Talente zu erkennen und zu entfalten!

Sonntag, 29. April 2012

Brief an einen "Liberalen-Hasser"

Es liegt mir nicht daran, zu betonen, dass ich ein Neoliberaler bin. Vielleicht bin ich das gar nicht. Ich habe grundsätzlich ein Problem damit, Menschen in Modelle und/oder Schablonen einzuordnen, weil Menschen doch etwas vielschichtiger sind, als Modelle und/oder Schablonen das zulassen.

In einem völlig anderen Zustammenhang stieß ich kürzlich auf einen Debattenteilnehmer, dem der Schaum fühlbar um den Mund stieg, wenn ich liberale und/oder neoliberale Ideen zur Sprache brachte. Sein Vorwurf was, dass "Liberale es in ihrer Freiheitsliebe nicht gewohnt sind, Dinge zu Ende zu denken". Deswegen machte ich den unten zitierten Versuch, die Dinge etwas weiter durchzudenken (wenngleich auch nicht völlig zu Ende). Es ist mein Brief an einen Liberalen-Hasser.




Hiermit darf ich auf Ihre Breitseite gegen „Liberale“ eingehen. Manchmal kommt mir in Zeiten, wo so viele Ausdrücke mit "…mus" enden, vor, dass weniger Informierte den Neoliberalismus als eine Steigerung des Liberalismus betrachten. Um Missverständnisse zu vermeiden, möchte ich erst einmal klarstellen, was ich unter „neoliberal“ verstehe. Es ist natürlich unmöglich, komplexe Dinge in wenigen Zeilen darzustellen, aber folgende Definition hat mir bisher noch am besten gefallen:

Zitat Anfang (aus dem Blog ortneronline)
Entgegen einer weit verbreiteten Annahme bedeutet “neoliberal” nicht völlig unregulierten Turbo-Kapitalismus ohne wenn und aber. Ganz im Gegenteil:

“In den 1930er und 1940er Jahren, die von Staatsinterventionismus, Protektionismus, zentraler Wirtschaftslenkung und Totalitarismus geprägt waren, gab es eine Rückbesinnung auf die Ideen des Liberalismus. Aus Sicht der Neoliberalen hatte man mit der Politik des Laissez-faire im 19. Jahrhundert, als der Staat die Wirtschaft weitgehend dem freien Spiel der Marktkräfte überließ, negative Erfahrungen gemacht und sah eine Notwendigkeit zur Neuformulierung. Neoliberale Vordenker sahen die Gefahr, dass ein ungeregelter Markt dazu tendieren kann, durch die Bildung von Monopolen den Wettbewerb aufzuheben, und dadurch seine eigene Grundlage zu zerstören. Markt ist nach Auffassung des Neoliberalismus daher nicht naturwüchsig, sondern muss durch den Staat gewährleistet werden. Im September 1932 umriss Alexander Rüstow auf einer Tagung des Vereins für Socialpolitik das neue liberale Credo: „Der neue Liberalismus jedenfalls, der heute vertretbar ist, und den ich mit meinen Freunden vertrete, fordert einen starken Staat, einen Staat oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Interessenten, da, wo er hingehört“.

Zur Gewährleistung des effizienten Einsatzes des Produktivkapitals gehört neben dem Recht auf Privateigentum auch die Haftung. Die Eigentümer von Produktivkapital sollen sich nicht nur die Gewinne aneignen, sondern auch die volle Haftung für getroffene Fehlentscheidungen tragen.

Als das wohl bedeutendste Beispiel neoliberaler Politik gilt die Politik in der Bundesrepublik Deutschland unter Ludwig Erhard (1949–1963 Bundeswirtschaftsminister, 1963–1966 Bundeskanzler). Erhard und sein Staatssekretär Alfred Müller-Armack, der den Ausdruck „Soziale Marktwirtschaft“ prägte, waren beide Wirtschaftswissenschaftler und hatten regelmäßigen Kontakt zu den führenden Vertretern des Neoliberalismus wie Rüstow, Röpke, Eucken, Böhm und Hayek. ” (Quelle:Wikipedia; inhaltlich vom Autor überprüft).
Zitat Ende

Ich muss immer wieder staunen, wie weit die Menschen des deutschsprachigen Kulturkreises sich heutzutage von den Wurzeln ihres Kulturkreises, ja, ich möchte fast sagen, von den Wurzeln des abendländischen, judeo-christlichen Kulturkreises lossagen möchten. Ich habe es kürzlich faszinierend gefunden, wie man anlässlich der Wahl des neuen deutschen Bundespräsidenten das Thema „Freiheit“, noch dazu Freiheit als möglicherweise größtes Gut, heftigst diskutiert hat.

Seit meiner Pensionierung lese ich wieder sehr viel Geschichte. Sehr viel vergesse ich dank meiner gealterten Gehirnzellen gleich wieder, aber Grundthemen bleiben erhalten. Es ist erstaunlich, was die Menschen seit der Urzeit bereit waren, zu geben und zu opfern, um die Freiheit erreichen. Die Freiheit der Vielen vor der Willkür der Wenigen. Die Debatten, die ich in deutschsprachigen Medien im Zusammenhang mit Gauck verfolgen konnte, waren schon sehr aufschlussreich. Frei nach dem Motto „Natürlich ist Freiheit wichtig, aber…“ Warren Buffett hat eine schöne Antwort auf solche Aussagen, nämlich: „Lassen Sie uns diese Diskussion auf den Friedhöfen von Omaha Beach fortsetzen!“

„Nur der verdient die Freiheit wie das Leben, der täglich sie erkämpfen muss!“ – dieser Satz stammt doch nicht von einem losgelassenen Wilden von der Wall Street! Natürlich setzt Freiheit viele andere Werte voraus wie z. B. die Solidarität des Einzelnen mit der Gesellschaft, Charakter und Integrität des Einzelnen, etc. Natürlich gilt der Satz „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!“ Auch dieser Satz kommt nicht von einem schwebenden Guru in Indien. Beide Sätze stammen aus unserem eigenen Kulturkreis. Und wer sich verletzt fühlt von der Aussage „Den unnützen Knecht werfet hinaus in die Finsternis; dort wird sein Heulen und Zähneklappern“, der sollte nicht auf brutale Kapitalisten schimpfen, sondern sich mit den Neuen Testament auseinandersetzen.

Ich sage das nur, weil heutzutage oft die Meinung verbreitet wird, als käme alles Schlechte von den amerikanischen Neoliberalen à la Milton Friedman, etc. Woran ein sehr großer Teil der Welt (außerhalb Europas) heute glaubt (und was wir so gerne kritisieren), kommt zu einem erheblichen Teil aus unserem eigenen Kulturkreis. Denken Sie an Kant, Popper, Hayek, Schumpeter, etc. etc. Und unsere eigenen Philosophen haben sich an Plato, Sokrates, etc. orientiert. Trotz allem will unsere heutige Gesellschaft so tun, als gäbe es diese kulturellen Werte nicht? Dann entfernen sich die modernen Deutschen von ihren Wurzeln genauso wie sich die modernen Griechen von den Werten ihrer antiken Vorfahren entfernt haben.

Während meines Studiums las ich Dahrendorfs Buch über die „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“. Es war ein Augenöffner für mich! Ich fragte mich, warum ich in Amerika studieren musste, um ein solches Buch zu lesen. Bei den meisten Österreichern ist dieses Buch genauso unbekannt wie die Werke von Popper, Hayek, Schumpeter, von Mises, etc. (obwohl alle Österreicher waren).

Wenn Sie heute einen Amerikaner fragen – meinetwegen einen ungebildeten, der erst vor wenigen Jahren eingewandert ist -, warum er stolz ist, in Amerika zu leben, dann wird er Ihnen wie aus der Pistole geschossen 2 oder 3 Gründe nennen. „Freiheit“ ist mit Sicherheit einer dieser Gründe. Fragen Sie heute einen gebildeten Deutschen, warum er stolz ist, ein Deutscher zu sein und er wird möglicherweise erst einmal nachdenken, ob man in Zeiten wie diesen überhaupt noch stolz auf sein Land sein sollte.

Jetzt werde ich Ihnen etwas sagen, was Sie wahrscheinlich sehr überraschen wird. Ich habe mir kürzlich in der Mediathek des Bundestags die Debatten über das Rettungspaket angehört. Wer glauben Sie, hat mich am meisten beeindruckt? Gregor Gysi, und zwar um Längen! Die Befürworter – von Merkel abwärts – haben Teile eines Ganzen blind nachgebetet ohne das Ganze zu verstehen (oder es verstehen zu wollen). Ich würde auch vielem von dem, was Frau Wagenknecht in TV-Diskussionen zu den Herausforderungen unseres Wirtschaftssystems sagt, zustimmen. Es steht doch völlig außer Frage, dass Banken primär der Wirtschaft und dass die Wirtschaft primär der Gesellschaft dienen sollte. Es wird aber keine sehr gut funktionierende Gesellschaft geben, hinter der nicht auch eine gut funktionierende Wirtschaft steht und es wird ohne gut funktionierende Banken auch keine gut funktionierende Wirtschaft geben.

Es ist doch romantisch naiv, wenn man denkt, dass die Wirtschaft etwas „da oben“ ist, mit dem man nichts zu tun haben möchte. Jeder von uns ist ein Teil der Wirtschaft (der Volkswirtschaft, möchte ich sagen). In dem Moment, in dem wir uns eine Semmel beim Bäcker kaufen, haben wir einen wirtschaftlichen Prozess in Gang gesetzt. Wir haben die Semmel beim Bäcker A und nicht beim Bäcker B gekauft. Vielleicht weil Bäcker A freundlich ist und Bäcker B nicht. Damit tragen wir möglicherweise dazu bei, dass Bäcker A sehr erfolgreich und Bäcker B bald arbeitslos sein wird. Dann müssen wir uns als „economic agents“, d. h. als Mitglieder der Gesellschaft, Gedanken machen, ob wir Bäcker B Arbeitslosengeld zahlen wollen oder ob wir ihm empfehlen wollen, freundlicher zu werden. Etc. etc.

Es ist bei den Lösungsansätzen, wo ich mich von Gysi, Wagenknecht, etc. unterscheide. Die Verstaatlichung der Banken kann keine Lösung sein. Sorry, könnte schon sein, aber dann müsste der Staat ein weiser und gerechter sein im Sinne von Plato, ein „starker Staat, ein Staat oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Interessenten, da, wo er hingehört“. Wir haben jedoch – wie in der Demokratie nicht anders möglich – Parteien und sonstige Interessensvertretungen. „Ohne die Partei wäre ich nichts“ hat einmal ein österreichischer Bundeskanzler ganz herzlich ehrlich zugegeben. Sie werden mir kein verstaatlichtes Unternehmen zeigen können, wo nicht früher oder später Parteieninteressen durchschlagen werden. Sie können mir keine Partei nennen, die nicht letztendlich Wähler gewinnen möchte. Sie können mir keinen Politiker nennen, der nicht wiedergewählt werden möchte. Ich glaube nicht, dass Sie mir einen Politiker und/oder eine Partei nennen können, der/die in der Tat nur die Interessen des ganzen Landes vertritt.

So ist halt einmal die Demokratie; anders geht es nicht. Und deswegen braucht man in einer Demokratie Menschen, die die Parteien (und somit den Staat) davor einschränken, sich die Gesellschaft zum Eigentum zu machen (u. a. auch die "Hirne der Bürger"). Anders ausgedrückt, Menschen, die sich darauf konzentrieren, die Freiheit des Einzelnen vor der Willkür von Anderen zu schützen. Oder noch anders ausgedrückt: die Freiheit der Vielen vor der Willkür der Wenigen.



Soweit mein Brief. Die Antwort des Liberalen-Hassers war, dass dies ein Beispiel mehr dafür sei, dass Liberale in ihrer Freiheitsliebe Dinge nicht zu Ende denken wollen.